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Inter­view mit Richard Sen­nett zum "Tag der Arbeit"

Iden­ti­tät und Krise des Kapi­ta­lis­mus

 

Tag der Arbeit Sennett

 

Der neu­zeit­li­che "Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus" führte zu neuen Job-Bedin­gun­gen - Mobi­li­tät, Fle­xi­bi­li­tät, Team­work - füh­ren zu tief­grei­fen­den Per­sön­lich­keits­ver­än­de­run­gen. Dies behaup­tet der ame­ri­ka­ni­sche Kul­tur­kri­ti­ker und Leh­rer an der berühm­ten Lon­don School of Eco­no­mics, Richard Sen­nett, in sei­nem neuen Buch "Der fle­xi­ble Mensch". Der "Brü­cken­bauer" hat mit ihm ein Inter­view zum Tag der Arbeit geführt.

"Brü­cken­bauer": Richard Sen­nett, hat der Tag der Arbeit über­haupt noch einen Sinn?

"Richard Sen­nett": (lacht) Eigent­lich nicht mehr, inso­fern als die Iden­ti­tät des Arbei­ters immer weni­ger fass­bar wird, weil sich die Arbeits­for­men so weit von den klas­si­schen Sche­mas ent­fernt haben. Ich glaube, dass der fle­xi­ble Kapi­ta­lis­mus und die neuen Arbeits­for­men den Cha­rak­ter der Leute zuneh­mend beein­flus­sen wer­den. Dabei ver­stehe ich unter Cha­rak­ter das, was sich im Lauf unse­rer ganz per­sön­li­chen Lebens­er­fah­run­gen in unse­rem Inners­ten formt: er äus­sert sich in Wer­ten wie Treue, in gegen­sei­ti­gem Enga­ge­ment, im Ver­fol­gen lang­fris­ti­ger Ziele, in der Arbeits­fä­hig­keit mit Aus­sicht auf nicht nur kurz­fris­tige, son­dern dau­e­r­hafte Beloh­nun­gen wie die Pen­sio­nie­rung.

Eine Aus­sicht, wel­che es heute nicht mehr gibt?

Genau! Noch vor kur­zem konn­ten Ange­stellte und Mit­a­r­bei­ter ihr Leben orga­ni­sie­ren und ein bestimm­tes Gefühl der Dau­e­r­haf­tig­keit auf­recht­er­hal­ten, das ihnen Zuver­sicht und Moti­va­tion gab. Man arbei­tete hart, die Arbeit war müh­sam, man ertrug Unge­rech­tig­keit - aber alles in allem war man sicher und konnte sich auf die Pen­sio­nie­rung ver­las­sen: unser Leben, unsere Anstren­gun­gen wur­den belohnt und hat­ten so einen Sinn. Heute hin­ge­gen weiss nie­mand mehr sicher, wel­che Rich­tung seine beruf­li­che Lauf­bahn neh­men wird. Mit der Loy­a­li­tät des Arbeit­ge­bers ist es Schluss.

Wie erklä­ren Sie diese Ent­wick­lung ?

Nun gut, die den Arbeits­ver­hält­nis­sen zugrunde lie­gen­den Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten ste­hen heute in völ­li­gem Wider­spruch zur moder­nen Gesell­schaft und zu den heu­ti­gen Anfor­de­run­gen der Wirt- schaft, die ganz auf Unmit­tel­bar­keit aus­ge­rich­tet sind. Die Unter­neh­men gehen ganz auf die Wün­sche der Kon­su­men­ten ein oder kom­men ihnen zuvor und wol­len für ihre Inves­ti­ti­o­nen schnelle Ren­di­ten. Nun sind aber die Nach­fra­gen der Kon­su­men­ten sehr leicht beein­fluss­bar. Man ist also sehr fle­xi­bel und trifft schnelle Ent­schei­dun­gen, um fast unmit­tel­bar und gezielt auf die Bedürf­nis­sen des Mark­tes ein­zu­ge­hen. Die Unter­neh­men ihrer­seits sind nicht mehr pyra­mi­den­ar­tig stru­ku­riert, son­dern bil­den ein Archi­pel von Bezie­hun­gen, ein Netz­werk, eine geschmei­dige, fle­xi­ble Struk­tur die sich ver­än­dert, sich sel­ber rück­gän­gig macht oder neu zusam­men­setzt, ganz nach Belie­ben den Anfor­de­run­gen des Augen­blicks gehor­chend. Sie wird stän­dig neu defi­niert. Es stellt sich nun die fol­gende Frage: wie kann der Ein­zelne sich noch lang­fris­tige Ziele set­zen inmit­ten einer Gesell­schaft, die stän­dig im Fluss ist und alles kurz­fris­tig anvi­siert? Wie kön­nen sich Werte wie Ver­trauen oder Loy­a­li­tät noch behaup­ten inner­halb von Orga­nis­men oder Unter­neh­men, die in stän­di­ger Umbil­dung, Restruk­tu­rie­rung, Schrump­fung oder Glo­bal­pla­nung begrif­fen sind?

Was hat sich denn grund­le­gend geän­dert?

Unser Ver­hält­nis zur Zeit. Es ist nicht mehr vor­her­seh­bar, was in unse­rem beruf­li­chen Leben geschieht. Noch vor zehn oder fünf­zehn Jah­ren konn­ten Sie auf die Zeit set­zen. Für die unte­ren Bevöl­ke­rungs­schich­ten war Zeit sogar das ein­zige Gut. Wurde die­ses Gut dank per­sön­li­cher Dis­zi­plin und Lebens­ge­stal­tung gut ein­ge­setzt, konnte man auf­stei­gen und vor­wärts­kom­men, weil das Tätig­keits­feld sta­bil war. Dies ist heute nicht mehr so! Nie­mand kann mehr mit einer bestimm- ten Dauer rech­nen. Die Folge ist die: das Lebens ver­läuft nicht linear und fort­s­chrei­tend und ergibt für den Arbei­ter kei­nen Sinn mehr. Er erhält keine Rück­mel­dung mehr auf seine erbrach­ten Anstren­gun­gen, und es wird für ihn immer schwie­ri­ger, ein Selbst­wert­ge­fühl zu emp­fin­den. Ob ent­las­sen oder pen­sio­niert, er fühlt sich betro­gen und übers Ohr gehauen.

Somit hat also heute der arbei­tende Mensch keine eigent­li­che Iden­ti­tät mehr?

Abso­lut keine. Wie kann ich noch wis­sen, wer ich bin? Schon das Wort "Arbeit" sel­ber hat nicht mehr die glei­che Bedeu­tung wie frü­her. An sei­ner Stelle wer­den Begriffe ver­wen­det, die dem Zeit- geist bes­ser ent­spre­chen: "Pro­jekt", "Mission", "Tätig­keits­feld", "Task force" usw. All diese Wör­ter rücken die beruf­li­che Tätig­keit in eine flüch­tige, pro­vi­so­ri­sche und vor­über­ge­hende Per­spek­tive. Arbeit im alt­her­ge­brach­ten Sinn setzte Fähig­kei­ten vor­aus, die im Lauf der Zeit ent­wick­lungs- und aus­bau­fä­hig waren. Das ist nicht mehr der Fall. Wenn man Ihnen ein Pro­jekt anver­traut, begin­nen Sie immer wie­der bei Null, und Sie gebrau­chen Teil­fä­hig­kei­ten, die nicht über die Pro­jekt­dauer hin­aus fort­be­ste­hen. Am unte­ren Ende der Lei­ter trägt die Infor­ma­tik in dem Mass zu die­sem Phä­no­men bei, als sie die Leute aus­tausch­bar macht: jeder und jede kann auf einer Tas­ta­tur her­um­tip­pen. In Bos­ton sah ich mit Stau­nen, wie meine gute alte Bäcke­rei, wo einst rich­tige Bäcker echte Bäcker­a­r­beit ver­richte- ten, heute voll com­pu­te­ri­siert ist. Die Ange­stell­ten wech­seln stän­dig. Diese Art von "Arbeit" kann ja irgend jemand machen, und dies mit einem Mini­mum an Lern­zeit. Da stellt sich schon die Frage: was für ein Arbei­ter bin ich, was ist mein Beruf? Man weiss es nicht mehr so recht.

Einige sind aber sehr ange­tan von die­ser Mobi­li­tät der Arbeit und schät­zen diese spie­le­ri­sche und aben­teu­er­li­che Seite... sie sur­fen...

Ja, vor allem die Kader­leute. Je höher Sie auf der beruf­lich-gesell­schaft­li­chen Lei­ter auf­stei­gen, umso mehr sind die Leute vom fle­xi­blen Kapi­ta­lis­mus ent­zückt, als ob er allen zugute kom­men würde. Wenn ich ans Davo­ser Wirt­schafts­fo­rum gehe und dort die Kon­zern­lei­ter höre, bin ich sprach­los ob deren Vor­stel­lung, wie die Leute ganz unten in der Unter­neh­mens­struk­tur am Erfolg des neuen Kapi­ta­lis­mus ebenso gros­sen Gefal­len fin­den soll­ten! Als ob ihr Modell für alle gel­ten würde...

War es frü­her bes­ser? Die Rou­tine, die Büro­kra­tie, die Abstump­fung, Chap­lin in "Moderne Zei­ten"...

Nein, nie­mand wird dem nach­trau­ern. Wir sind aber von einem Extrem ins andere gefal­len: von einer extre­men Starr­heit in eine extreme Fle­xi­bi­li­tät. Einer der neuen Mythen ist zum Bei­spiel der, die Ver­än­de­rung um der Ver­än­de­rung wil­len, die Bereit­schaft zum Risiko zu pre­di­gen. Das Risiko wird als Ener­gie­s­pritze ange­se­hen, als etwas, das Sie dyna­mi­siert. Wer kein Risiko ein­geht, seine Stelle nicht wech­selt und nicht sagt "das mache ich nicht ein Leben lang", gerät in Miss­kre­dit. "Nun, das ist ganz hübsch. Aber alles hängt davon ab, WER diese Risi­ken auf sich nimmt. Im Namen die­ser Kul­tur wer­den näm­lich die ein­fa­chen Ange­stell­ten, kurz die Basis, dazu getrie­ben, Risi­ken ein­zu­ge­hen - obwohl die mit die­sen Risi­ken ver­bun­den Kos­ten für sie sel­ber viel höher sind als für ihre Vor­ge­setz­ten...

Haben Sie nicht den Ein­druck, dass der Mit­tel­stand in sei­ner Arbeit mehr Frei­heit geni­esst?

Da bin ich mir nicht so sicher. Die Leute haben nur sehr gerin­gen Ein­fluss auf ihre Exis­tenz. Fer­n­a­r­beit und -kom­mu­ni­ka­tion las­sen die mensch­li­chen Kon­takte ver­küm­mern: ver­schwun­den ist jene phy­si­sche Prä­senz, die einer Bezie­hung erst Tiefe ver­mit­telt. Die beruf­li­che Mobi­li­tät und die Umzüge ver­un­mög­li­chen es, wirk­lich dau­e­r­hafte Freund­schaf­ten auf­zu­bauen. Vor allem steht Ihnen keine Per­son mehr gegen­über, die Zeuge Ihrer Exis­tenz, Ihres Werts, Ihrer Lauf­bahn wer­den könnte; es ist nie­mand mehr da, der das beur­teilt, was Sie sind. Die Kol­le­gen und Leute Ihrer Umge­bung ken­nen von Ihnen nur die flüch­tige Dimen­sion, die Sie wäh­rend der Pro­jekt- oder Missi­ons­zeit wahr­neh­men. Kurz, aus dem Eis­berg Ihrer Per­sön­lich­keit ragt nur die oberste, wech­selnde, sich in ste­tem Fluss befin­dende Spitze.

Rich­tig, und wel­che Fol­gen hat denn die­ser Tat­be­stand in der aus­ser­halb der beruf­li­chen Sphäre, bei­spiels­weise für die Fami­lie?

Nun ja, man ist immer rat­lo­ser und weiss über­haupt nicht mehr, was für ein Berufs­mo­dell man sei­nen Kin­dern mit­ge­ben soll. Was tun, wenn wir ihnen kein lang­fris­ti­ges Ziel mehr vor­schla­gen kön­nen? Denn, o weh, als Vor­bild hat man ihnen ja nichts anzu­bie­ten als ein Leben und eine Ge- schichte, die von Teil- und Bruch­stü­cken, von­ein­an­der unab­hän­gi­gen und unzu­sam­men­hän­gen­den Epi­so­den geprägt ist. Hier bricht also ein Kon­flikt aus zwi­schen den Wer­ten, wel­che die Eltern ihren Kin­dern gern mit­ge­ben möch­ten - Ver­trauen, Loy­a­li­tät, Treue, Beloh­nung der Anstren­gun­gen auf lange Sicht - und den­je­ni­gen Wer­ten, wel­che ihr eige­nes Berufs­le­ben auf­weist: ... zufäl­lig, chao­tisch, von zahl­rei­chen Fak­to­ren abhän­gig, die sie nicht beein­flus­sen kön­nen. Lässt sich das Team­work-Modell auf das Fami­li­en­le­ben über­tra­gen? Den­ken Sie, dass Eltern und Kin­der im Team­work funk­tio­nie­ren? Für die Kin­der ist ein sol­ches Feh­len von elter­li­cher Auto­ri­tät immer kata­s­tro­phal.

Stellt das Team­work für Sie keine dyna­mi­sche Arbeits­form dar?

Doch, es ist sehr leis­tungs­fä­hig. In mei­nen Augen ist es jedoch per­vers, wenn das Team­work den Druck des Chefs durch den Grup­pen­druck von Gleich­ge­stell­ten ersetzt. Da wird jeder für jeden ver­ant­wort­lich... Man will glau­ben machen, dass die Spiel­re­geln nicht vom Chef fest­ge­setzt wer­den, der sich hin­ter der Rolle eines sport­li­chen Coachs ver­steckt und zum Wett­be­werb anspornt... über­dies betont das Team die Inter­ak­ti­o­nen ihrer Mit­glie­dern stär­ker als die Gül­tig­keit eines per­sön­li­chen Urteils. Der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­vor­gang wird gewis­ser­mas­sen wich­ti­ger als das Mit­ge­teilte. Und da es immer schwie­rig ist, etwas tief­schür­fen­dere und kom­pli­zier­tere Dinge mit­zu­tei­len, bleibt der Aus­tausch immer ober­fläch­lich... Und dann löst sich, wie bereits gesagt, die Gruppe wie­der auf und man beginnt wie­der etwas ande­res... Unter die­sen Umstän­den besteht der Mit­a­r­bei­ter-Reflex darin, sich durch eine Art Gleich­gül­tig­keit zu schüt­zen, ein geküns­tel­tes Enga­ge­ment an den Tag zu legen und sich ober­fläch­lich koope­ra­tiv zu zei­gen, ohne sich jedoch gefühls­mäs­sig stark zu enga­gie­ren - denn dazu besteht ja gar kein Anlass mehr.

Wozu dra­ma­ti­sie­ren? Kri­sen in der Arbeits­welt und Momente der Unsi­cher­heit hat es ja zu allen Zei­ten gege­ben...

Ja. Was aber heute neu ist, ist diese Insta­bi­li­tät, und dass man sich gar bemüht, die Bedin­gun­gen dafür zu schaf­fen! Es gibt eine Insti­tu­ti­o­na­li­sie­rung der Insta­bi­li­tät, die durch die neuen Techno- logien mög­licht gewor­den ist. Insta­bi­li­tät wird zur Norm, an die wir uns zu gewöh­nen haben.

Wel­chen Aus­weg schla­gen Sie vor?

(lacht) Wenn ich das wüsste! Ich weiss nur eins: die Ant­wort führt über eine andere Bezie­hung zur Zeit. Und über eine Wie­der­her­stel­lung der sozi­a­len Bin­dung. Wir müs­sen zu einer Denk­weise fin­den wo wir begrei­fen, dass wir alle von­ein­an­der abhän­gig sind, dass wir uns in einer Situa­tion gegen­sei­ti­ger Abhän­gig­keit befin­den, und zwar von unten bis zuo­berst auf der Lei­ter. Ich habe den Ein­druck, dass die Leute, die ich Jahr für Jahr am Wirt­schafts­fo­rum in Davos antreffe, sich des­sen kaum bewusst sind. Für eine ein­leuch­tende Tat­sa­che sind sie blind geblie­ben: dass näm­lich eine Gesell­schaft, in der die Arbei­ter sich nicht auf­ein­an­der ver­las­sen kön­nen, eine Gesell­schaft ohne Zukunft ist. Jean François Duval

Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lag Brü­cken­bauer Zürich

 

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